KRAFTMEIER
Fahrbericht Yamaha XJR 1300

Seit nunmehr sieben Jahren wildert die bärenstarke Yamaha im Revier der Naked Bikes. 1995 als XJR 1200 präsentiert und für 1999 auf 1300 Kubikzentimeter aufgestockt, streift die XJR 1300 in der Gunst der Käufer immer noch weit oben durch die Zulassungsstatistik. Ein Grund mehr, mit dem überarbeiteten Hubraumriesen einmal gemeinsam auf die Pirsch zu gehen.




Mächtige Motorräder üben eine eigenartige Anziehungskraft aus. Eleganz durch Kraft, Funktion und Form halten sich im gediegen wirkenden Konzept die Waage. Weg von der modischen Hetze nach dem höher, schneller und weiter. XJR-Fahrer haben das nicht nötig, tümmeln sich lieber in der Gischt der gewaltigen Drehmomentwoge. Beeindruckende 105 Nm zerren an der Kette der ungedrosselten 106 PS starken Yamaha und massieren den fetten 180er-Dunlop Sportmax so, dass es ihm schon mal warm ums Herz werden kann. Das ist gerademal ein schlappes Newtonmeter weniger, als die ungedrosselt über 140 PS starke FZS 1000 Fazer ans Getriebe schickt.

Es ist einfach eine Wonne, mit knapp über Leerlaufdrehzahl im letzten Gang durch die 30 km/h-Zone zu bummeln und bei Aufhebung der Geschwindigkeitsbegrenzung nicht mal ans Schalten denken zu müssen. Ein einfacher Dreh am Gasgriff genügt und die Fuhre schiebt tief brummend voran. Dieser ungemein geschmeidig laufende Vierzylinder macht´s möglich. Trotz der Luftkühlung dringen keine störenden mechanische Geräusche an die Umwelt. Lediglich hochsensible Naturen stellen gelegentlich ein ganz feines Tickern des Ventiltriebes fest.

Wunderbar lässt sich die 1300er über die Gashand steuern - morgens den letzten Gang rein und abends erst wieder raus. Das ist Big Bike-Feeling pur. Keine Spur von Aggressivität und Eile. Dabei kann sie durchaus, wenn man sie denn lässt. Über 230 km/h, lang liegend und (natürlich ...) völlig stillos sind machbar, jedoch nicht allen Ernstes zu empfehlen. Ab 160 km/h ist der Winddruck enorm, und ab 200 km/h aufrecht sitzend kaum noch auszuhalten. Wie ein Segel im Wind, den Lenker mit den zu Schraubstöcken mutierten Händen fest verankert – nein, das macht höchstens für 10 bis 15 Sekunden Spaß und ist nicht wirklich das Revier der Yamaha.

Dann nämlich kommt auch das überarbeitete Fahrwerk an seine konzeptbedingten Grenzen. Über 260 Kg Gewicht, verteilt auf zwei Räder, die immerhin 1,5 Meter auseinander stehen – Fakten, die einem agilen Handling nicht besonders zuträglich sind. Trotzdem es an der Straßenlage grundsätzlich nicht viel zu mosern gibt, beginnt die Front bei sehr schneller Fahrt ein wenig um die Hochachse zu rühren. Abhilfe schafft ein weniger verkrampfte Festhalten am Rohrlenker, ich weiß. Aber wie, frag ich mich, soll das bei 230 km/h funktionieren? Zugegeben, der deutlich ergonomischer geformte Tank leistet durch seinen verbesserten Knieschluss unterstützende Wirkung beim „Knieklammern“, doch mit Genuss hat das nicht mehr viel zu tun.

Lassen wir´s also einfach mit der Autobahn-Bolzerei und fahren dieses Motorrad so, wie es sich für solch ein Motorrad gehört. Mit Ruhe und Gemütlichkeit. Dann fällt auch der Schalter am linken Lenkerende für die neu installierte Warnblinkanlage auf. Dieses sehr nützliche Detail erhöht insbesondere bei Staus die Aufmerksamkeit anderer Verkehrsteilnehmer und sollte somit nicht als modischer Schnickschnack abgetan werden. Schon gar nicht für Allwetter-Fahrer. Die werden sich auch über die gute Dosierbarkeit der hydraulisch betätigten Kupplung freuen. Zwar sind die Betätigungskräfte recht hoch, doch erhält der Fahrer auch viel Feedback beim langsamen Einkuppeln. Das Fünfganggetriebe hingegen kann sein Alter nicht ganz verleugnen. Ohne ein unangenehmes „Klock“ lässt sich die erste Fahrstufe im Stand definitiv nicht einlegen. Einmal in Bewegung, kann von barocker Schaltmimik jedoch keine Rede mehr sein. Mit klarer Rastung und finden die Gangradpaare den ihnen zugeteilten Platz im Zahnradsortiment.

Die Vorderradführung und das hintere Federsystem des aktuellen Jahrgangs wurden kräftig überarbeitet und spürbar straffer abgestimmt. Durch Feinarbeit konnte das Gewicht der 43er Telegabel zudem um 100 Gramm reduziert werden, so dass die ungefederten Massen geringer ausfallen. Vorn und hinten sorgen veränderte Feder-/Dämpfungsabstimmungen an den beiden hochwertigen Öhlins-Federbeinen für mehr Reserven und dadurch erhöhten Fahrkomfort. Somit gibt sich die XJR bei weitem nicht mehr so träge wie das Vorjahresrmodell. Der Negativfederweg fällt nicht mehr so groß aus und wenn es doch einmal auf Block geht, fangen die weicheren Anschlagdämpfer die Stöße komfortabler ab. Zudem ist die vorn wie hinten die Federbasis stufenlos verstellbar. Das alles wirkt sich beim Fahren äußerst vorteilhaft aus, wenngleich es aus der 1300er wie bereits erwähnt, längst noch kein Handling-Star macht. Wer sie hart rannehmen möchte, muss ihr schon klare Signale geben.

Dafür lockt die XJR mit zwei sehr bequemen Sitzplätzen, die zum Touren geradezu einladen. Der recht stark nach hinten gekröpfte Rohrlenker unterstützt die abgeklärte Stimmung des Fahrers. Zu keiner Zeit provoziert sie zu sportlicher Gangart. In Verbindung mit ihrer urwüchsigen Kraftentfaltung gibt sie sich souverän wie ein großer Cruiser. Allerdings ist sie auch kein Kostverächter. Im Schnitt genehmigt sich das Vergaser-Triebwerk 7,5 Liter Normalbenzin auf hundert Kilometern. Unter vollen Segeln sind über 10 Liter keine Seltenheit. Eigentlich schade, vereiteln die ungezügelten Trinksitten doch eine bessere Reichweite. Spätestens nach 230 Kilometern wird das Reserve-Fass angeschlagen. Dies geschieht durch das Umlegen des konventionellen Benzinhahnes. Trotzdem: Big Bike hin oder her – der Verbrauch ist einfach nicht mehr zeitgemäß.

Bereits die erste XJR 1300 erbte die Bremsanlage der sportlichen R-Modelle. Eine prächtiger Nachlass, der die große Yamaha bei Bedarf mächtig einbremst und obendrein bestens dosierbar ist. Im Gegensatz zur verschlimmbesserten R1-Bremse des 2002er-Jahrgangs, sind die Vierkolben-Festsättel der XJR nicht mit Leichtmetall- sondern mit Stahlkolben ausgerüstet. Beim Hineinbremsen fällt das Aufstellmoment mit den montierten Dunlop Sportmax-Radialreifen niedrig aus. Einmal auf Temperatur gebracht, geht die Haftung vollkommen in Ordnung. Noch bevor die Haftungsgrenze erreicht ist, setzen auf der linken Seite zuerst Fußraste, später Hauptständer auf und mahnen zur mehr Zurückhaltung. Wer jedoch mit der XJR 1300 bereits in diesem Bereich unterwegs ist, sollte die alte Schule der klassischen Big Bikes beherrschen. Mit Hanging off und anderen Spirenzchen ist mit ihr kein Blumentopf zu gewinnen. Es sei denn, der Fahrer legt es auf einen kräftigen Applaus der Zuschauer an. Demjenigen jedoch, dem es gelingt, die fahrfertigen 262 Kg sportlich und auf sauberer Linie, stets mit etwas Zug am Hinterrad auf der Ideallinie zu bewegen, wird mit ihr selbst hier so manchen Stich machen können. Und sei es spätestens durch das gewaltige Drehmoment am Kurvenausgang.

FAZIT:
Kein Wunder, dass die Yamaha XJR 1300 in der Saison 2001 mit 2.888 neu zugelassenen Exemplaren selbst nach sieben Jahren noch auf Platz 11 der Zulassungsstatistik zu finden ist. Das Konzept des Naked Bike ist sehr überzeugend. In der überarbeiteten Version dürfte sie nochmals Auftrieb bekommen. Ihr schlichtes und eigenständiges Auftreten, der überaus kräftige und seidenweich laufende Vierzylinder, sowie die hohe Alltags- und Tourentauglichkeit sind Qualitäten, die nicht nur Spaß machen, sondern auch eine hohe Zweckmäßigkeit erfüllen. Die zu weiche Abstimmung der Telegabel ist passé und die ordentlich abgestimmten Öhlins-Federbeine am Heck verrichten ihren Dienst nun noch ordentlicher. Wer also nichts gegen einen starken Orkan, beziehungsweise zusätzliche Fitness-Stunden in der Muckie-Bude einzuwenden hat, und für durchgestylte Sporttourer nicht mehr als ein mildes Lächeln übrig hat, wird mit der Yamaha über viele Jahre großen Spaß haben.

Text & Fotos: Ulrich Hoffmann (Foto 4: Martin Rath)

Technische Daten:
Motor: Luftgekühlter Vierzylinder-Viertakt-Reihenmotor, DOHC, 4 Ventile je Zylinder, Bohrung x Hub 79 x 63,8 mm, Hubraum 1251 ccm, Verdichtung 9,7:1, 4 Mikuni-Gleichdruckvergaser ø37mm, Leistung 106 PS (auch mit 98 PS lieferbar) bei 8.000 /min-1, max. Drehmoment 105 Nm bei 6.000 min-1, elektronische Zündung, E-Starter, 5-Gang-Getriebe, Doppelschleifenrohrrahmen aus Stahl, Radstand 1.510 mm, Nachlauf 100 mm, Lenkkopfwinkel 64,5°, Sitzhöhe 775 mm, Tankinhalt 21/4,5 Liter, Reifen vorn/hinten: 120/70-17 180/55-17, Radführung vorn: Telegabel, hinten: Zwei Gasdruck-Federbeine, Hinterradantrieb über Kette, Federweg vorn/hinten: 130/120 mm, Bremsen vorn: Doppel-Scheibenbremse ø 298 mm, hinten: Einfachscheibe ø 267 mm, Gewicht fahrfertig 262 kg

Praxis: Beschleunigung 0-100 in 3,6 sek., Höchstgeschwindigkeit 235 km/h, Verbrauch 7,5 Liter Normal bleifrei/100 km, 2 Jahre Garantie ohne Kilometerbegrenzung

Preis 2002: 9.480 Euro

Was auffiel:
- Hupenknopf ergonomisch ungünstig (steht außen zu weit ab); ist besonders mit dicken Winterhandschuhen nervig; dafür ist die Hupe wirklich lautstark
- Verarbeitungsmängel am Lack der Kunststoff-Seitendeckel (schon nach 1.200 Testkilometern wird der Lack im Bereich der Waden stumpf)
- Lichtausbeute mit Abblendlicht nicht sonderlich hoch; Fernlicht sehr stark, leuchtet aber praxisfremd aus
- Springt bei kaltem Motor manchmal erst auf den zweiten oder dritten Knopfdruck an, läuft dann bei gezogenem Choke aber rund durch; die Starthilfe kann nach wenigen Metern ganz zurückgenommen werden
- bei betriebswarmem Motor verschluckt sich der Vierzylinder beim plötzlichen Gasgeben im Leerlauf; Linderung bringt die Anhebung der Leerlaufdrehzahl auf 1.100 min-1; beim 2001er-Modell trat diese Eigenart nicht auf
- Bei nasser Fahrbahn neigt der Hinterreifen ab 4.500 min-1 zum Durchdrehen – Vorsicht in den ersten drei Gängen!
- Die verchromten vier Auspuffkrümmer sind recht pflegeintensiv, da sich sehr der Dreck schnell einbrennt
- Die Kräfte zum Aufbocken der Maschine fallen niedrig aus; was jedoch fehlt ist ein Haltegriff am Bereich der Sitzbank oder Heck; um mit der Hand unter das Bürzel zu greifen sind zum einen sehr große Hände erforderlich und zum anderen muss der rechte Arm sehr ungünstig in weitem Bogen unter das Bürzel fassen
- Der Sozius-Komfort ist sehr lobenswert; der Haltebügel kommt seiner Aufgabe praxisgerecht nach und sieht obendrein auch noch schick aus
- Fahrten mit Dauertempi über 200 km/h werden mit einem Verbrauch von nicht unter 11 Litern bestraft
- Die vorderen Bremsen sind fantastisch! Hinten könnten die Betätigungskräfte jedoch ruhig etwas niedriger ausfallen, gehen so aber noch völlig in Ordnung – vor allem für sportlichere Fahrer
- Man vermisst eine kleine Digital-Uhr; im Drehzahlmesser wäre dafür durchaus noch Platz
- Die Warnblinkanlage ist bei Staus oder beim Vorbeimogeln eine nicht zu verachtende Sicherheitsreserve

U. Hoffmann